Dr. Media beantwortet in der aktuellen Ausgabe von "Österreichs Journalist:in" brennende Fragen der Branche.
Dr. Media: Das als „Message-Control“ bekannt gewordene System der ÖVP des ehemaligen Bundeskanzlers und ÖVP-Chefs Sebastian Kurz folgte intern sehr strengen und kompromisslosen Regeln. Egal, ob es um Interviewanfragen an die ÖVP-Minister ging, um das Autorisieren von Interviews, um Presseaussendungen oder Reden für Pressekonferenzen, um das vielzitierte Wording bei neu aufgekommenen Themen oder darum, welcher Minister auf welches Thema „draufgehen“ (typische Anweisung in der ÖVP) soll, das letzte Wort hatten immer Johannes Frischmann und Gerald Fleischmann. Die Sprecherinnen und Sprecher der Ministerinnen und Minister waren in ständigem, praktisch täglichem Austausch mit Frischmann, der nach Stationen beim ehemaligen Finanzminister Hans Jörg Schelling zu so etwas wie dem Hauptsprecher von Kurz aufgestiegen war, und Fleischmann, seines Zeichens Medienkoordinator und neben dem strategischen Berater Stefan Steiner und Kabinettchef Bernhard Bonelli jemand, der auch die Linie der Partei vorgab. Der Burgenländer stand schon an der Seite von Kurz, als dieser noch Integrationsstaatssekretär im Innenministerium war. Zuvor arbeitete er unter anderem für die ÖVP-Bundespartei und die frühere Justizministerin Claudia Bandion-Ortner.
Sowohl Frischmann als auch Fleischmann (beide werden in der Inseratenaffäre als Beschuldigte geführt, wie auch Sebastian Kurz selbst) haben das Bundeskanzleramt bekanntermaßen verlassen. Frischmann braucht noch seinen Urlaub auf und ist schon seit Wochen komplett von der Bildfläche verschwunden, Fleischmann betätigt sich zwar immer noch (als „Referent“) in der Partei und ist dort auch präsent, auf die Ministersprecher hat er aber spätestens seit dem endgültigen Abschied von Kurz aus der Politik und der anschließenden Personalrochade im ÖVP-Regierungsteam mit Karl Nehammer als Bundeskanzler keinerlei Einfluss mehr.
Für die Sprecher hat deshalb ein neues Zeitalter begonnen. Und nicht alle empfinden es als Segen, nicht mehr an der kurzen Leine gehalten zu werden, sondern in Absprache mit ihren Ministern selbst jene Entscheidungen treffen zu müssen, die ihnen bequemerweise jahrelang abgenommen wurden. Entscheidungen, für die sie nun natürlich auch die Verantwortung übernehmen müssen. Was einigermaßen schizophren ist, gehören doch diese Anforderungen zum Berufsprofil von Pressesprechern, von denen die meisten noch dazu seit vielen Jahren im Geschäft sind. Aber die Hierarchien innerhalb der Bundes-ÖVP waren in den vergangenen Jahren streng, selbstständiges Arbeiten war nicht nur nicht erforderlich, sondern wurde ihnen beinahe abgewöhnt.
Was nun zur Folge hat, dass Entscheidungsfindungen viel zu lange dauern und die Medienarbeit des türkisen Teils der Regierung immer wieder ungeschickt wirkt. Dass beispielsweise Kurzzeit-Bundeskanzler Alexander Schallenberg und Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein im Vorfeld der Ankündigung des Lockdowns Mitte November zeitgleich Pressekonferenzen abhielten, deren Inhalte zum selben Thema nicht abgesprochen waren, wäre zu Zeiten von Frischmann und Fleischmann undenkbar gewesen. Auch die Tatsache, dass seit ihrem Abgang viel weniger Pressekonferenzen stattfinden und die Minister weniger Interviews geben, ist vor allem dem Umstand geschuldet, dass ihnen niemand mehr wöchentlich Themen vorgibt, die sie in der Öffentlichkeit setzen sollen, und auch niemand mehr Druck ausübt, regelmäßig Interviews zu geben. Entweder, um ein spezielles Thema aufs Tapet zu bringen, von dem Kurz wahrscheinlich profitieren würde, oder um von einem anderen abzulenken, das ihm schaden könnte.
Einige Sprecher haben mittlerweile damit angefangen, sich viel stärker untereinander abzusprechen und einander Ratschläge zu erteilen, um nicht komplett auf sich gestellt zu sein. Bei Interviewanfragen zum Beispiel, oder bei Autorisierungen von Interviews und dem Lancieren von Storys in den Medien. Von ihren jeweiligen Ministern ist in dieser Hinsicht nicht viel zu erwarten, denn auch sie waren in der Rangordnung nie über Fleischmann und Frischmann und folgten im Wesentlichen deren „Empfehlungen“. Vorstöße ohne ihre Zustimmung oder sogar gegen ihren Willen waren ohnehin ausgeschlossen. Und die drei neuen, Gerhard Karner, Magnus Brunner und Martin Polaschek, müssen sich ohnehin erst in ihren Ämtern zurechtfinden und halten sich daher noch zurück.
Hinzu kommt, dass vielen Sprechern auch das Ablaufdatum ihrer Tätigkeit bewusst ist, kaum jemand von ihnen rechnet damit, nach Neuwahlen und einer (neuerlichen) Regierungsumbildung immer noch in einem Kabinett zu sitzen, selbst bei einer erneuten ÖVP-Beteiligung.
Sie alle erleben jetzt die Folgen einer Praxis, die auch in vielen Unternehmen in der Privatwirtschaft immer wieder zu Rückschlägen führt. Nämlich das Übertragen von zu viel Verantwortung und Einfluss auf einige wenige Führungskräfte, ohne einen Plan B für den Fall zu haben, dass diese Führungskräfte plötzlich nicht mehr da sind und Strukturen hinterlassen, mit denen niemand etwas anfangen kann. Wie in einem Fußballteam, in dem ein charismatischer und über alle Maßen erfolgreicher Trainer gleichzeitig auch Sportdirektor ist und alle Macht in sich vereint. Dieses Konstrukt geht in der Regel so lange gut, bis er kurzerhand zu einer anderen Mannschaft wechselt und ein plan- sowie führungsloser Verein übrig bleibt. In der ÖVP-Regierungsmannschaft hat diese Konzeptlosigkeit jedenfalls zu viel Frust, Unsicherheit und auch schon zu ersten ernsthaften Abschiedsgedanken innerhalb der Sprecherteams geführt. Neuen Gesichtern in der Ministerriege dürften also bald auch neue Gesichter bei den Sprechern folgen. Mit Sebastian Kurz verschwindet somit nach und nach auch sein medialer Konvoi aus der Politik.
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