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News / „Sag was. Ich bin müde“
Der Jubilar (Foto: Günther Artinger)
11.06.2024   Leute
„Sag was. Ich bin müde“
Der ehemalige APA-Chefredakteur Wolfgang Mayr feiert seinen 80. Geburtstag. Axel Reiserer würdigt ihn für „Österreichs Journalist:in“.
Wien - Alle paar Wochen treffen wir uns im Café Hummel auf der Josefstädter Straße. Die Verabredungen werden meist per WhatsApp eingeleitet und von Wolfgang Mayr mit der ebenso ernsthaften wie schelmischen Feststellung besiegelt: „Es gibt viel zu besprechen.” Nachrichten sind für den ehemaligen Chefredakteur der Austria Presse Agentur (APA), der am 11. Juni seinen 80. Geburtstag feiert, immer noch das Lebenselixier.
 
Einmal, als wir so beisammensaßen, drückte er ein wenig herum, dann sagte er: „Ich habe eine Bitte: Kannst du dich um meinen Wikipedia-Eintrag kümmern? Das ist ja das, was von mir bleiben wird, sozusagen mein Nachruf in unserer Digitalzeit.” In der APA glaubt man an Nachrufe. Schon zu Lebzeiten. In flauen Sommermonaten haben wir sie einst auf Vorrat produziert. Für Mayr ist es nur naheliegend, dass er sich um seinen eigenen Sorge macht: Das Alter macht ihm zunehmend zu schaffen und die Zahl der Friedhöfe, die er besuchen müsste, um alte Freundschaften zu pflegen, übersteigt längst jene der Kaffeehäuser.

Das Hummel ist nicht nur seit Jahrzehnten sein Stammcafé, das er vor allem wegen der großen Auswahl an nationalen und internationalen Zeitungen liebt. Wo findet der Innviertler von Geburt und aus Überzeugung – er stammt aus einer Handelsfamilie, die in fünfter Generation das Kleiderhaus „Fussl Modestraße” betreibt – anderswo in Wien beispielsweise die „Oberösterreichischen Nachrichten” aufliegen?

Die Pflege der Bundesländerzeitungen war eines von vielen Anliegen Mayrs in der APA, für die er 37 Jahre in verschiedenen Positionen tätig war, zuletzt von 1997 bis zur Pensionierung 2005 als Chefredakteur. Obwohl er nicht den Anti-Wien-Reflex vieler Zugezogener teilt, sah er sich immer als Fürsprecher jener, die meinten, im nationalen Medienorchester nicht genug Gehör zu bekommen. Mayr versteht den Stellenwert regionaler Verankerung: „All politics is local”. Für ihn ist es die normalste Sache der Welt, wenn die Bludenzerin zu den „Vorarlberger Nachrichten” und der Kufsteiner zur „Tiroler Tageszeitung” greift, wenngleich sie in beiden Fällen dieselbe APA-Meldung lesen.

Heute ist „das Hummel“ auch deshalb alternativlos für uns, weil Mayr gemeinsam mit seiner Frau Renate in unmittelbarer Nähe wohnt. Er geht nur mehr mühsam und mit kleinen, unsicheren Schritten, als müsste er erst den Boden sondieren, ehe er sich trauen kann, den Körper vorsichtig vorwärts zu bewegen. In der heimischen Wohnung stolpert er immer wieder über Zeitungsstapel und Bücherberge von Himalaya-Dimensionen. Das Herz wird schwächer, die Glieder schmerzen und die Gelenke ächzen in den verkalkten Scharnieren. Übungen würden guttun. Aber: „Ich bin ein fauler Hund”, sagt Mayr.

Das Erlöschen des Augenlichts versuchen die Ärzte mit schmerzhaften Spritzenbehandlungen zumindest zu verlangsamen. Noch mehr aber schmerzt ihn, dass er immer schlechter lesen kann. Der Katarakt hat die Linsen so weit eingetrübt, dass jede Tätigkeit der Augen zu einer ermüdenden Anstrengung geworden ist. Dagegen würde auch kein Konditionstraining helfen.

Das ist ein Fluch. Insbesondere für jemanden, der immer hautnah am Geschehen sein musste – und das bis heute sein will. Mit dem Aufbau der Fotoredaktion und der Infografik holte er die Nachrichtenagentur APA einst aus der Steinzeit. Mit gleichgesinnten Kollegen machte er aus einem Verlautbarungsorgan der Staatsführung mit der stilistischen Brillanz der 47. Novelle zur Arbeitnehmerwerbungskostenveranlagungsverordnung ein ernsthaftes Medienunternehmen. Statt Übersetzer stellte Mayr Journalisten ein, er suchte Talente und wusste sie zu fördern und zu formen.
Nicht allen hat das gefallen, weder im Haus noch in der Politik. Mayr war ehrgeizig, ungeduldig und zielstrebig. Seine Karriere ist ihm nicht in den Schoß gefallen, er hat sie sich erkämpft. Dass er nicht nur hartnäckig, sondern auch erstaunlich wenig „verhabert” war, bewahrte ihn vor angeblichen „Freundschaftsdiensten” und jeder „Eine-Hand-wäscht-die-andere-Politik“.

Dabei ist Mayr gesellig, am liebsten aber im Kreis von Freunden und Familie. Bei einem der letzten Jahresempfänge der APA, dem von ihm erfundenen „Bierigen“ (in Anlehnung an die hochgeschätzte Institution des „Heurigen“), holten wir ihn kurz vor 22 Uhr schon auf dem Heimweg zurück. Um 2 Uhr früh saß er immer noch bei uns und unterhielt die gesamte Runde. Das große Staatstheater dagegen lag ihm nie. Bei Kanzlerfesten, Bürgermeisterheurigen oder Ministerfrühstücken fühlte er sich stets bedeutend unwohler als bei Planungssitzungen in der Redaktion, wo er kilometerlange Papierbahnen mit gelbem Leuchtstift markierte als würde er die Seefahrt nach Indien neu abstecken.

Einen „gnadenlosen Dienstleister“ nannte ihn sein Nachfolger Michael Lang treffend bei der Staffelübergabe 2015. Einen gütigeren Gnadenlosen als den Mayr, der meine Generation formte, hat die Welt noch nicht gesehen. Hatte sein Vorgänger Management und Personalführung scheinbar mit Hilfe des Films „Full Metal Jacket“ trainiert, vertraute Mayr auf sozial eher akzeptierten Umgangsformen.

Aber mit den Worten „Dienst” und „leisten” hatte Lang ohne Zweifel recht. Der kleinste APA-Genossenschafter musste ebenso gut betreut werden wie der größte. Inhaltliche Intervention hat es von Mayr nie gegeben. „Die APA muss ein Bollwerk der Unabhängigkeit und der Qualität sein”, war sein Credo. Das lebte er auch. Wenn es aber nicht länger zu verantworten war, dass der in Unwissenheit darbenden österreichischen Medienöffentlichkeit eine bahnbrechende Information der Schweizerischen Depeschenagentur (sda) leichtfertig vorenthalten blieb, musste er seinem journalistischen Pflichtbewusstsein irgendwann Genüge tun. „Homma des ghobt?”, begann stets die schicksalshafte Unterhaltung.

Die Journalistenkarriere von Mayr begann mit dem Prager Frühling 1968, als er in die außenpolitische Redaktion der APA eintrat (und gleich ein paar altgedienten Kräften forsch auf die Zehen trat), und endete 2005, als die Staaten Mittel- und Osteuropas gerade in die EU aufgenommen worden waren. Zufall? Jedenfalls schloss sich ein Kreis, und der Aufbau eines Osteuropa-Desk und die Gründung des APA-Büros in Brüssel gehörten zu seinen weiteren Pionierleistungen. Uns damals Jungen gab er auch ausdrückliche freie Hand bei einem Thema, um das sich auch die APA allzu lange herumgedrückt hatte: die Aufarbeitung des Nazi-Regimes und bestehende Verstrickungen. Der FPÖ-Abgeordnete John Gudenus stolperte über die Meldung APA0114/17.10.1995, 10:36: „Gaskammern? Ich halte mich da raus. Ich glaube alles, was dogmatisch vorgeschrieben ist.“ Mayr wies alle Interventionen zurück, der ORF griff den Vorfall auf und Gudenus musste sein Nationalratsmandat zurücklegen.

Mit der Pensionierung begann für Mayr ein neuer Lebensabschnitt. In Kürze schrieb er sich – gemeinsam mit seinem Freund Robert Sedlaczek und unterstützt von seiner Frau Renate – zum „Tarock-Papst” Österreichs empor. Als Journalist war er als Schreiber stets im Hintergrund geblieben. Jetzt verfasste er Bestseller, hatte eine wöchentliche Zeitungskolumne und, wie er sich erinnert: „Auf einmal hatte ich ein Netzwerk.” Es ist nur leicht übertrieben zu sagen, dass die Staatsspitze – ungeachtet der Couleur – sich in den nächsten Jahren um seinen Tisch zum Königrufen versammelte. „Der Herr Mayr von der APA“ (so einst „Der Journalist“ nach seiner Bestellung zum Chefredakteur) war nun der Gstieß, jene Trumpfkarte, die im Tarock alles sticht.

Wenn wir im Café Hummel Platz genommen haben, wird nach umständlichen Überlegungen doch immer das gleiche bestellt: Ein kleiner Brauner für ihn, ein Espresso für mich. Bis der Kaffee kommt, das kann dauern, und da kann man schon ganz schön weit kommen im Austausch („Leit´ ausrichtn“). Zuerst werden Familie und Gesundheitszustand besprochen: „Es soll uns nie schlechter gehen“, war Jahrzehnte sein Leibspruch. Das hat er schon lange nicht mehr gesagt. Wenn ich ihn heute frage: „Wie geht’s?“, antwortet er: „Lass uns das schnell hinter uns bringen, bevor wir über Interessanteres reden.“

Dabei landen wir stets bei Tratsch und Klatsch aus Politik und Medien. Ist das Gespräch besonders launig, haben wir da schon vom kleinen Kaffee zum kleinen Bier gewechselt. Heute wie vor 30 Jahren gilt: Mayr liest alles, hört alles, sieht alles, weiß alles. Er sorgt sich um den Medienpluralismus. Er fürchtet die Dominanz des ORF. Er bangt aus lebenslanger Liebe um die Zukunft des „Kulturguts Zeitung.“ Er ist ein akribischer Sprachwächter im Geiste des seligen Karl Hirschbold („Pirschgänge im Sprachrevier“). Er wird immer konservativer, weil er findet, dass es keine anständige bürgerliche Partei mehr in Österreich gibt.

Dann tritt eine Pause ein. Er schaut mich an: „Sag was. Ich bin müde.“ Also habe ich nachgedacht. Und das ist es, was ich sagen möchte, weil er nun seinen 80. Geburtstag begeht und sozusagen als „Nachruf zu Lebzeiten”: Alles, was ich als Journalist kann, habe ich von Wolfgang Mayr gelernt, unserem feinen, humorvollen und verehrten Lehrer und Förderer. Danke, Wolfgang.


Text: Axel Reiserer


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