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News / Sollen Journalisten die Herkunft von Tätern nennen – oder müssen sie das sogar?
Michael Boll (Foto: Christian Beier)
05.09.2024   Vermischtes
Sollen Journalisten die Herkunft von Tätern nennen – oder müssen sie das sogar?
Nach dem Terror auf dem Stadtfest in Solingen ist eine Debatte über die Nennung der Herkunft von Tätern entbrannt. Der Verleger des „Solinger Tageblatts“, Michael Boll, antwortet der Medienethikerin Claudia Paganini.
Solingen – Nach dem Terror auf dem Stadtfest ist eine Debatte über die Nennung der Herkunft von Tätern entbrannt.
 
WAS DIE MEDIENETHIKERIN CLAUDIA PAGANINI SAGT: 
Frau Paganini, wie beurteilen Sie die bisherige Berichterstattung in den Medien zu Solingen?
Claudia Paganini: Was mir auffällt – es scheint offensichtlich gar kein Problem für die Medien zu sein, die Herkunft des Verdächtigen zu nennen. Das ist erstaunlich, weil das in der Medienethik und vielen Journalismus- und Pressekodizes ja sehr kontrovers diskutiert wird und grundsätzlich mal so eine Art Konsens herrschte, dass man die Herkunft eigentlich nicht nennen sollte, um keinen ausländerfeindlichen Haltungen Vorschub zu leisten. Von den Öffentlich-Rechtlichen bis zu den kleinsten privaten Online-Medien hat jetzt offensichtlich niemand Schwierigkeiten, die Herkunft zu nennen. Es hat hier einen Rückgang an Sensibilität gegeben, der sich für mich schon länger abgezeichnet hat.
 
Gibt es darüber hinaus noch etwas, was besser laufen könnte?
Ich würde erwarten, dass man stärker kontextualisiert: Wie viele Messerattacken gibt es in Deutschland insgesamt pro Jahr, wer verübt sie, gibt es da wirklich einen besonders hohen Anteil von Personen mit Migrationshintergrund - so etwas wäre eine sinnvolle Kontextualisierung. Es geht hier nicht darum, zu beschwichtigen und mit der rosaroten Brille in die Welt zu schauen - sondern um relevante Informationen.
 
Was meinen Sie damit konkret?
Die Attacke wurde verübt von einer Person mit Migrationshintergrund, die sich radikalisiert hat. Was überhaupt nicht thematisiert wird, ist, wie viele Menschen ohne Migrationshintergrund, in Deutschland geborene Personen ohne Migrationshintergrund in der Familie, sich dem IS angeschlossen haben. Und wir müssen uns fragen, warum sich auch ganz viele Deutsche radikalisieren, die vielleicht zu wenig klare Sinnorientierung haben, weil beispielsweise die Kirchen hier nicht mehr eine so große Rolle spielen. Denen alles irgendwie zu locker ist, zu weltanschaulich offen. Und das ist eben keinesfalls nur ein Problem, was von außen nach Deutschland hereingetragen wird, sondern auch ein Thema drinnen in unserem Land, in unseren eigenen deutschen Familien. Aber dieses Thema wird - soweit ich sehen kann - bislang in den Medien überhaupt nicht aufgegriffen, obwohl das sehr relevant wäre.

Interview: Steffen Grimberg, KNA-Mediendienst
 
WAS DER VERLEGER DES „SOLINGER TAGBLATTS“ MICHAEL BOLL ANTWORTET:
Medienethik ist eine wichtige wissenschaftliche Disziplin. Das gilt besonders in einer offenen Gesellschaft, in der Medien einen großen Einfluss haben. Insofern ist es keine große Überraschung, dass wie so oft nach großen nachrichtlichen Ereignissen auch nach dem Terroranschlag von Solingen sehr schnell medienkritische Aspekte diskutiert werden.
 
Was Frau Professorin Claudia Paganini jedoch am 28.August 2024 im Interview mit kress.de ausführte, ist in hohem Maße irritierend. So kritisiert die Medienethikerin, dass es für die Medien im Allgemeinen im Fall Solingen kein Problem zu sein scheine, die Herkunft des Verdächtigen zu nennen. Dabei nimmt sie auch Bezug auf den Pressekodex und dass „mal so eine Art Konsens herrschte, dass man die Herkunft eigentlich nicht nennen sollte, um keinen ausländerfeindlichen Haltungen Vorschub zu leisten.“ Wie bitte? Das gilt ausweislich der Richtlinie 12.1 des Pressekodex aber richtigerweise doch gerade nicht, wenn ein begründetes öffentliches Interesse besteht an der Erwähnung der Herkunft des Verdächtigen.
 
Wenn, wie mutmaßlich im Fall Solingen, ein Flüchtling, der nach geltendem Recht eigentlich schon hätte abgeschoben sein sollen, einen religiös motivierten Terroranschlag mit drei Toten und vielen Verletzten begeht, kann es nicht einen Funken Zweifel am öffentlichen Interesse der Nennung seiner Herkunft geben. Die Praxis-Leitsätze des Presserats sind da glasklar. Ein begründetes öffentliches Interesse liegt demnach zum Beispiel vor bei einer besonders schweren Straftat wie Terrorismus.
 
Eigentlich benötigt man für diese Einschätzung gar nicht den Blick in den Pressekodex und seine Leitsätze. Der gesunde Menschenverstand lässt gar keinen anderen Schluss zu. Man stelle sich mal vor, im Fall Solingen ließe man die Bevölkerung im Unklaren über die Herkunft des mutmaßlichen Attentäters! Dann wäre man kommunikativ nicht mehr weit von Zuständen wie in totalitären Systemen entfernt. Dabei ist unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung ohnehin so gefährdet wie noch nie seit Beginn der Bundesrepublik Deutschland. Man denke nur an die aktuellen Wahlergebnisse im Osten.
 
Nötig sind jetzt nicht nur Politiker der demokratischen Mitte, die statt kleinlichem Parteienstreit pragmatisch und beherzt an Lösungen für real existierende Probleme – zum Beispiel in Migrations- und Sicherheitsfragen – arbeiten. Nötig sind auch unabhängige Medien, denen die Bürgerinnen und Bürger vertrauen, weil sie kritisch und wahrheitsgetreu diese Probleme thematisieren.
 
Wenn die Medien Ratschläge aus dem Elfenbeinturm wie die von Frau Professorin Paganini annehmen würden, verspielen sie das Vertrauen der Bevölkerung. Diese würde sich dann zunehmend aus dubiosen, mit Fake News gespickten „Alternativmedien“ informieren. Das kann keiner wollen, dem die Demokratie am Herzen liegt.“


Hintergrund: 
Claudia Paganini ist Philosophin und seit 2021 Professorin für Medienethik an der Hochschule für Philosophie München. Die gebürtige Innsbruckerin hat unter anderem zu theologischen Themen gearbeitet und wurde 2019 mit dem österreichischen Staatspreis „Ars Docendi“ für exzellente Lehre in der Kategorie „Forschungsbezogene bzw. kunstgeleitete Lehre“ ausgezeichnet.
 
Sie ist Mitinitiatorin der Wissenschafts-Plattform „Handeln statt Kriminalisieren“, die sich für eine sachliche Auseinandersetzung mit dem Klimawandel sowie den damit verbundenen Protestformen einsetzt und Autorin mehrerer Romane und Sachbücher. Mit dem KNA-Mediendienst spricht sie über die Berichterstattung zum Anschlag in Solingen und der politischen PR.