Wir müssen auch an die Angehörigen denken
Professioneller Journalismus hält sich nicht nur an die Gesetze. Er respektiert die Privatsphäre von Opfern, Tätern und Angehörigen. Eine Einordnung der Geschehnisse in Graz von SN-Chefredakteur Manfred Perterer.
Drei nicht nachvollziehbare Auswüchse einer falschen medialen Entwicklung am Beispiel der Ereignisse in Graz:
Erstens: Noch am Tag der Tat klopfen zwei Magazin-Journalisten an die Wohnungstür der Mutter des mutmaßlichen Attentäters. Angesprochen auf diese Respektlosigkeit gegenüber Angehörigen meint die Chefredakteurin, es hätte ja sein können, dass die Mutter etwas sagen wollte. Wenige Stunden nachdem sich der eigene Sohn getötet hat, nachdem er vermutlich zehn Menschenleben ausgelöscht hat. Eine Mutter im Schock. Ein versuchter Übergriff.
Zweitens: Im Netz wird ein junger Mann weltweit als Mörder verleumdet, weil er zufällig gleich heißt wie der Verdächtige. Unbekannte stellen sein Bild online, beschimpfen ihn, drohen seiner Familie mit der Ermordung. Jeder, der diese Falschinformationen verbreitet, macht sich – auch ohne böse Absicht – mitschuldig am digitalen Rufmord. Daher unbedingt: erst nachdenken, dann teilen.
Drittens: Am Tag der Tat selbst herrscht noch mediale Zurückhaltung. Doch schon am nächsten werden alle Kanäle mit Dreck überschwemmt. Von Informationen kann man nicht reden, weil es sie nicht gibt, weil nichts Relevantes darin vorkommt, es geht nur um die Befriedigung oberflächlicher, dumpfer Neugier. Ein Mal sieht man in einem Video Schulkinder einen Gang entlanglaufen, vorbei an schwer bewaffneten Polizisten. Dann hört man Schüsse und sieht einen Mann in einem Klassenzimmer ans Fenster gehen. Es sind Leichensäcke da, die vor der Schule auf einen Rasenstreifen gelegt worden sind. Am dritten Tag zeigen gleich mehrere Medien ein Bild des mutmaßlichen Amokläufers.
Wir tun das alles nicht. Wir sind deshalb nicht besser als andere, wir sind anders. Professioneller Journalismus, wie ihn die „Salzburger Nachrichten“ betreiben, hält sich erstens an die Gesetze (Identitätsschutz für Opfer und Täter), berücksichtigt immer die Betroffenen im Umfeld (Eltern, Geschwister, Lehrer der Opfer wie auch des vermeintlichen Täters), respektiert es, wenn Menschen schweigen möchten, prüft alle Informationen auf ihre Faktizität und Plausibilität. Wir sind damit 80 Jahre gut gefahren und wir wollen es auch weiterhin so halten.
Es ist für eine liberale Demokratie wichtig, dass sie auch in der Stunde der Not Medien hat, auf die sich die Menschen verlassen können. In denen ihr berechtigter Wissensdurst gestillt wird, aber nicht ihre unkontrollierte Sensationslust.
Manfred Perterer, Chefredakteur „Salzburger Nachrichten“
Hinweis: Dieser Text ist am 13. Juni 2025 als Leitartikel in den „Salzburger Nachrichten“ erschienen.