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News / Sensible Sprache: In der Strukturfalle
Peter Linden (Foto: APA-Fotoservice/Schedl)
22.08.2025   Medien
Sensible Sprache: In der Strukturfalle
In der „Journalisten-Werkstatt: Sensible Sprache“ von Peter Linden geht es auch um Storytelling und Dramaturgie, die allzu oft festgelegten Mustern folgen.
Zu den wenig hinterfragten Standards im Film, im Journalismus und auch der Werbung zählen die bewährten Muster des Storytellings. Wieso sollte man auch hinterfragen, was Erfolg garantiert? Meist entstehen so süffige Blockbuster, egal ob für das Kino, das Fernsehen oder, in schriftlicher Form, für Printerzeugnisse oder Online-Formate. Dass ein Betrüger wie Claas Relotius mit seinen Texten problemlos durch die Instanzen beim „Spiegel“ marschieren konnte, liegt auch daran, dass die von ihm erfolgreich bediente, tradierte Form stets suggerierte, das Erzählte sei authentisch und wahr. Die etablierten Muster des Storytellings verführen auch seriöse Texterinnen und Autoren dazu, bevorzugt nach Storys zu suchen, die in diesen Mustern erzählbar sind. Und notfalls Themen oder Recherche-Ergebnisse so auszusortieren, dass nichts der gewünschten Dramaturgie im Wege steht.
 
Nach diesem Prinzip verfahren wir durchaus auch im Alltag. Was immer wir bloß bruchstückhaft beobachten oder erfahren – es ergibt anhand bewährter Muster rasch einen Sinn: Ein „so könnte es gewesen sein“ verwandelt sich schleichend über ein „so muss es gewesen sein“ in ein „so ist es gewesen“. Die gespeicherten Algorithmen und Klischees verstellen den Blick auf das womöglich Überraschende und Einzigartige. Das Problem ist, dass darüber vieles und viele auf der Strecke bleiben. Mitunter auch die Wahrheit.
 
Unsensible Sprache, unsensibles Kommunizieren funktioniert beinahe immer so: Was nicht passt, wird passend gemacht, oder es findet nicht statt. Null oder eins, schwarz oder weiß – alles dazwischen ist nicht etwa bunt, sondern grau. Sobald ein Format Antagonisten vorsieht, verwandeln sich Skeptiker in Feinde. Wenn eine Heldenreise gewünscht ist, mutieren bloße Zufälle oder Glück zu Kühnheit und Entschlossenheit. Bei der Reise des Antihelden ist es eben umgekehrt.
 
Im Dezember 2024 besuchte eine „Spiegel“-Autorin einen solchen „Antihelden“. Sie reiste nach Chemnitz, entschlossen, Benjamin Fredrich, den Gründer der Zeitschrift „Katapult“, als manipulativen Scharlatan darzustellen. Noch ehe die Leserschaft erfährt, wer da überhaupt welche Vorwürfe erhebt, ist die Story angelegt und der Weg in den in Teilen manipulativen Text geebnet: „Freitagabend am Sonnenberg in Chemnitz, einem Problemstadtteil mit hoher Arbeitslosigkeit und viel Leerstand. Hier will Benjamin Fredrich am nächsten Tag eine Buchhandlung eröffnen. Er trägt Kapuzenpullover und hat Sägespäne im Sechstagebart. Im Eingang stapeln sich Werkzeuge. Die deckenhohen Regale sind gerade zu einem Drittel mit Büchern gefüllt. Eher unsortiert. ,Hauptsache, es sieht voll aus‘, sagt Fredrich zur Methode. Am nächsten Morgen sollen mehr Bücher geliefert werden, wenige Stunden bevor die ersten Kunden kommen. ,12 Kisten, oder 14‘, sagt Fredrich zu einer Helferin. ,Vielleicht 17.‘ Genau weiß er das offenbar nicht.“ Er nicht. Aber alle, die diesen Einstieg gelesen haben, wissen nun genau, was der Fredrich für einer ist: Die Buchhandlung am falschen Ort (Arbeitslosigkeit!), unrasiert (erstaunlich, wie die Autorin erkennt, dass der Bart exakt sechs Tage alt ist) und chaotisch (weiß am Vorabend nicht einmal, ob am Folgetag 14 oder 17 Kisten geliefert werden!). Dass Benjamin Fredrich ein solches Porträt vermutlich gut wegstecken kann, darf nicht in die Beurteilung einfließen. Fakt ist: Dem Text mangelt es an Empathie. Ein großer Teil der Belegschaft von „Katapult“ richtete später einen Protestbrief an das Nachrichtenmagazin.
 
Die gute Nachricht ist, dass junge Filmemacherinnen, Werbetreibende, Schriftstellerinnen und Autoren Auswege aus dieser Strukturfalle suchen und finden. Die Formel „Inhalt vor Form“ ist auch in vielen Redaktionen und Agenturen nicht mehr fremd: Der Essay gewinnt seit Jahren an Bedeutung. In die Reportage mischen sich verfremdende, Zweifel schürende Interviewpassagen. Andere versuchen es, ähnlich wie neuartige Serien, mit vielen einzelnen Episoden und vielfältigen Perspektiven. Im Jahr 2023 veröffentlichte die „Neue Zürcher Zeitung“ die Reportage „Hotel Taliban“, die später in Bern für den True Story Award der Zeitschrift „Reportagen“ nominiert wurde. In dem Text geht es um die jüngere Geschichte Afghanistans bis hin zur Machtübernahme der Taliban. Die erwartbare Story ginge so: Die bis an die Zähne bewaffneten neuen Herrscher Kabuls lassen das einstmals mondäne Hotel Intercontinental verkommen. Die goldenen Zeiten sind der grauen Gegenwart gewichen. Die Story des Autors geht so: Er mietet sich ein. Er lässt sich von den jungen dort arbeitenden Afghanen, Taliban und Nicht-Taliban, durch das Haus führen. Die Zimmer erzählen die Geschichte des Landes, die jungen Männer von ihren Träumen. Der Autor beobachtet distanziert, aber mit Empathie. Er wertet nicht, er fragt. Er wundert sich. Er belässt vieles im Zustand der Ambivalenz. Er schafft es dennoch, den Lesefluss über 30.000 Zeichen hinweg aufrechtzuerhalten. Dennoch? Nein, gerade deshalb.
 
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