Michael Jungwirth beleuchtet eine alte, aber bis heute ungelöste Frage: Wie viel Nähe zur Politik verträgt unabhängiger Journalismus – und wo beginnt die heikle Zone, in der Distanz und Transparenz auf dem Spiel stehen?
Wien – In seinem Essay für die aktuelle
„Journalist:in“ beschreibt Michael Jungwirth eine Szene, die sinnbildlich für ein Dilemma steht, das den politischen Journalismus seit Jahrzehnten begleitet. Zu Beginn jeder EU-Ratspräsidentschaft war es üblich, dass das Vorsitzland Journalistinnen und Journalisten einlud, um Regierungschef, Ministerinnen und Minister sowie Sozialpartner zu treffen. Eine Gelegenheit, die Prioritäten des kommenden Halbjahres aus erster Hand zu verstehen – und ein Format, das lange Zeit als professioneller Standard galt.
Doch schon 1998, als Österreich erstmals die EU-Präsidentschaft übernahm, zeigten sich erste Bruchlinien. Während Wien fast 100 internationale Korrespondenten erwartete, baten britische, amerikanische und französische Kolleginnen und Kollegen überraschend um detaillierte Kostenaufstellungen: nicht nur für Flug und Hotel, sondern auch für Mittag- und Abendessen in Ministerien. Dass der Staat alle Kosten übernehmen wollte, stieß auf Kritik – aus Sorge, journalistische Distanz könne unter die Räder kommen.
Diese Debatte ist aktueller denn je. Heute, in Zeiten knapper Medienbudgets und hochprofessionalisierter politischer Kommunikation, werden Einladungen zu Auslandsreisen zum ethischen Stresstest. Wie viel Nähe lässt sich vertreten? Welche Reisen sind journalistisch sinnvoll? Und wie vermeidet man die subtile Erwartung wohlwollender Berichterstattung, wenn man auf dem Ticket der Politik reist?
Jungwirth beschreibt Situationen, in denen Reporter tagelang in Hotellobbys warten, zu keinem Termin zugelassen werden und am Ende nur die gefilterte Version der Delegation erhalten – ein Lehrstück darüber, wie Nähe Information nicht nur ermöglichen, sondern auch verhindern kann. Gleichzeitig betont er den journalistischen Mehrwert solcher Reisen: den Blick hinter die Kulissen, den keine Pressekonferenz ersetzt.
Sein Essay zeigt, wie schwierig die Abwägung geworden ist: Transparenz, Unabhängigkeit und professionelle Distanz stehen gegen Sparzwänge, Praxisrealitäten und die Frage, wie politische Akteure Medien strategisch einbinden.
Warum diese Gratwanderung den Journalismus heute stärker denn je fordert.
Must-reads in der aktuellen „Journalist:in“:– KÜNDIGUNGSWELLE: Ein Kahlschlag geht durch Österreichs Redaktionen
– BYE-BYE, JOURNALISM: Warum unsere Autorin Carina Bauer den Journalismus verlässt
– HIDDEN STARS: Wer Österreichs Redaktionen am Laufen hält